Nachdichtung und Übersetzung: dr. Gerd Busse, Dortmund.
Das sinnvolle Leben erste drei Kapitel
Eine Weile nicht gesehen
Jitse lenkt unser Auto behutsam über einen Waldweg, der mit grauem Schotter bedeckt ist. Hier und da gibt es Pfützen, von denen man nie genau weiß, wie tief sie sind. Ich betrachte ihn von der Seite: ein schon etwas älterer Mann mit einem unschuldigen Gesicht. Er trägt ein hellblaues Hemd und eine Jeans, seine Füße stecken in Wanderschuhen.
Es regnet, und um uns herum ist alles grün. Ich habe die Fensterscheibe neben mir heruntergekurbelt und stelle fest, dass es auch grün riecht:feucht und schwer. Deutsches Grün.
Jitse und ich sind nun schon über achtundvierzig Jahre zusammen und machen seit Jahrzehnten vergleichbare Sachen. Jitse hält für mich keine Überraschungen mehr bereit, und ich nehme an, dass es umgekehrt genauso ist.
Vertrautheit, eine stabile Beziehung, sich beim anderen geborgen fühlen: das ist ohne Spannung, aber es bietet Sicherheit. Und warum sollte ich altes Mädchen nach mehr Spannung verlangen?
Jitse konzentriert sich auf den Weg. Die Falten auf seiner Stirn sind etwas tiefer als gewöhnlich. Das Autofahren gehört nicht gerade zu seinen Stärken.
Unser Auto hat mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, ist aber gut gepflegt. Der Weg vor uns steigt langsam an. Viel Platz, um Schlaglöchern und anderen Hindernissen auszuweichen, gibt es hier nicht: überall dichter Fichtenwald, feuchtes Brombeergestrüpp und Farnkraut am Wegesrand. Auf der linken Seite des Schotterwegs geht es steil nach oben, rechts neben mir scharf nach unten. Doch ins Tal stürzen können wir nicht, die Bäume würden unseren Fall aufhalten. Ich schaue auf die Karte und schätze die Entfernung ab.
„Wenn der Campingführer recht hat, sind wir bald da“, sage ich. Jitse liebt einfache, kleine Campingplätze. Er recherchiert vorher im Internet und hat aber vorsichtshalber auch seine alten Campingführer aufgehoben, von denen einige schon älter als zwanzig Jahre sind. Für mich ist das in Ordnung, denn meist fahre ich, und er darf mir dann erzählen, wie wir unser Ziel erreichen. Heute jedoch, an einem Freitag Mitte August, sind wir bereits viele Stunden unterwegs. Wir kommen aus dem Osten Tschechiens und haben uns beim Fahren abgewechselt. Es ist schon spät am Nachmittag, gegen fünf. Für heute reicht es.
Deutsche haben es meist nicht so mit dem Zelten. Kleine Plätze mitten in der Natur findet man nicht so einfach. Der Campingplatz, zu dem wir unterwegs sind, wird in einem der alten Campingführer Jitses beschrieben. Wir sind mitten im Harz, auf über vierhundert Metern. Es könnte gut sein, dass es den Platz gar nicht mehr gibt.
Ein mit Moos überwachsenes Schild ein paar hundert Meter weiter informiert uns, dass wir am Ziel sind. „Talblick“ steht auf dem Schild. „Hier ist es“, sagt Jitse.
Die Mitte des Campingplatzes nimmt eine schräg zum Tal hin abfallende Wiese ein, darunter und darüber befinden sich ein paar Terrassen. Direkt vor einer steilen Felswand steht das Sanitärgebäude. Die unteren Terrassen sind leer, Brombeergestrüpp und Unkraut machen ein Zelten hier unmöglich. Die Wiese ist gemäht, zwei der oberhalb liegenden Terrassen ebenfalls. Hier und da stehen Wohnanhänger herum. Einige sind, genau wie das Schild, mit Moos überwachsen, hier und da hat sich die Verspannung eines Vorzelts gelöst. Andere Gäste, die, so wie wir, zelten, gibt es nicht. Jitse hält an, es lässt sich nicht so recht erkennen, wo der Weg aufhört und der Campingplatz anfängt.
Ich steige aus dem Wagen und gehe zum Sanitärgebäude. Es hat aufgehört zu regnen.
Eine Tür mit der Aufschrift „Damen“. Alte Toiletten und Duschen, aber sie funktionieren und werden, wie man sehen kann, sauber gehalten. Auf der anderen Seite des Gebäudes gibt es einen ähnlichen Raum für Männer, der jedoch abgeschlossen ist. Ein Zettel an der dunkelbraunen Holzwand informiert darüber, dass der Verwalter abends zwischen sieben und acht Uhr anwesend ist.
Der Name „Talblick“ trifft es. Vom Campingplatz aus sieht man das Tal vor sich liegen: kilometerweit grüne Fichten und Lichtungen mit Pestwurz, Bärenklau und Farnen.
Jitse ist mittlerweile zur höchstgelegenen Terrasse gegangen. Dort steht nur ein Caravan, sauber, aber offensichtlich im Augenblick unbewohnt.
„Von hier aus ist die Aussicht noch schöner“, ruft er.
„Kommt man da mit dem Auto hin?“, frage ich.
„Platz genug, und es ist nicht wirklich steil.“
Mir soll es recht sein. Er hat den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen. Langsam fahre ich im Rückwärtsgang nach oben.
Das Zelt aufbauen ist für uns Routine, jeder von uns hat seine Aufgabe. Früher, als wir noch mit den Kindern campten, hatten wir ein großes Familienzelt mit allerhand Gestänge und Seilwerk. Jetzt haben wir eines ohne Stangen: In den Stoff sind eine Art Feuerwehrschläuche eingenäht, die mit Luft gefüllt werden, damit das Ganze aufrechtstehen kann. Nach einer knappen Stunde sitzen wir mit einer Tasse Tee vor unserem Zelt und essen die Brötchen, die wir unterwegs gekauft haben.
Sogar die Sonne lässt sich sehen. ImTal steigt hier und da etwas Dunst auf. Es ist halb sieben.
„Der Campingplatzbesitzer scheint nicht gerade besonders ambitioniert zu sein“, vermutet Jitse.
„Vielleicht werfen ihm die Behörden ja Knüppel zwischen die Beine und wollen ihm den Platz hier eigentlich dichtmachen“, necke ich ihn ein wenig.
Auf Anordnung Jitses hat die Polizei ein paar Wochen, bevor wir in die Ferien gefahren sind, den illegalen Campingplatz eines Bauern an der Küste des IJsselmeers räumen lassen. Das hat für einigen Wirbel gesorgt, und selbstverständlich haben die Zeitungen und das friesische Fernsehen ausführlich darüber berichtet. Die Jugendlichen auf dem Platz hatten, neben anderen Drogen, ordentlich dem Alkohol zugesprochen, den der Bauer ihnen besorgt hatte. Jitse bekam als Bürgermeister von fast allen Seiten Komplimente für sein Durchgreifen.
Er rührt seinen Tee um.
„Ich habe mich dabei ziemlich unheimlich gefühlt, aber es war notwendig. Früher habe ich die Unangepassten gelobt – und heute lasse ich einen Campingplatz räumen! Es ist immer noch ein merkwürdiges Gefühl, selbst zum Establishment zu gehören.“
„Du musst nur noch anderthalb Jahre durchhalten“, beruhige ich ihn. „Das meiste hast du hinter dir.“
Um sieben Uhr biegt ein alter Mercedes auf den Platz. Ein Mann in Militärstiefeln steigt aus. Er trägt eine Hose in Tarnfarben und ein grünes T-Shirt. Der Mann sieht alt aus. Er ist mager, hat so gut wie keine Haare mehr auf dem Kopf und trägt einen grauen Stoppelbart. Er geht auf uns zu, und als er näher kommt, sehe ich die braunen Leberflecken unter seinen Barthaaren. „Willkommen“, sagt er auf Niederländisch, „so oft habe ich keine Gäste aus den Niederlanden.“ Ist es wegen der unerwarteten Begegnung mit einem Landsmann, oder kommt mir seine Stimme tatsächlich irgendwie bekannt vor? Wir stellen uns vor: Jitse de Vries und Karin Blauw – Harry de Groot. Sein Name sagt mir nichts– aber diese Stimme … Ich versuche ihn mir als jüngeren Mann vorzustellen und krame in meinem Gedächtnis.
Jitse holt einen Campingstuhl aus dem Auto und fragt Harry, ob er einen Nescafé oder eine Tasse Tee möchte. Harry entscheidet sich für Nescafé. Er mustert uns von oben bis unten. Die rechte Hand, in der er den Kaffee hält, zittert ein wenig. Wir unterhalten uns über die wunderschöne Lage des Platzes. Jitse möchte wissen, warum es nicht mehr Gäste gibt. Und warum findet man „Talblick“ nicht im Internet? Er sei Rentner, und es gebe keinen Nachfolger, erklärt Harry. Er habe keine Kinder und sei alleinstehend. Zufällig habe er vor sechs Jahren für wenig Geld die Alleininhaberschaft am Campingplatz bekommen können, doch damals sei es schon mit dem Platz bergab gegangen. Die Stammgäste würden alt und blieben weg, viele hätten ihre Stellplätze gekündigt.
„Wenn ich konkurrenzfähig sein möchte, wäre es nötig, zu investieren und zu wachsen.“
Das wolle er aber nicht. Und wahrscheinlich würden die Behörden es ihm auch nicht erlauben: das Tal seizum größten Teil Naturschutzgebiet.
Ich höre seine Stimme, und ich kenne sie, da bin ich mir so gut wie sicher: bekannt, aber nicht vertraut. Mir ist beim Klang seiner Stimme unbehaglich zumute. Jitse fragt noch ein wenig weiter, doch Harry gibt keine weiteren Informationen über „Talblick“ mehr preis – und vielleicht gibt es auch nichts mehr zu erzählen. Aber wie kommt ein Niederländer in den Besitz eines heruntergekommenen Campingplatzes mitten in Deutschland?
Zwei der Wohnwagen auf der großen Wiese unterhalb unseres Zelts seien momentan bewohnt, erklärtHarry. Ein älteres Ehepaar, Wanderer aus Berlin, wohnten in dem einen. Ruhige Leute, in unserem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter. In dem anderen Caravan würden zwei Frauen wohnen, Mitte dreißig. Sie kämen aus Polen und arbeiteten als Putzfrauen in einem Hotel in Bad Lauterberg. Sie hielten hier auch das Toilettengebäude sauber. Davon sei nur eine Seite in Gebrauch, das mache weniger Arbeit. Ob uns das störe? Ich schüttele den Kopf.
Der Caravan auf derTerrasse, auf der auch unser Zelt stehe,we
> „Dann könnt ihr morgen Abend zahlen.“
Währenddessen kommen die Wanderer aus Berlin und gehen zu ihrem Wohnwagen. Harry verabschiedet sich von uns, geht und unterhält sich einen Moment mit den beiden. Dann schaut er noch kurz in das Toilettengebäude, steigt in den Wagen und fährt davon.
„Ein Niederländer“, sagt Jitse. „Harry de Groot. Sagt mir nichts.“
„Nein, mir auch nicht“, pflichte ich ihm bei.
seine Stimme nicht bekannt vor.
Aber mir ist es plötzlich wieder eingefallen. Er heißt nicht Harry, sondern Jan, Jan Donker. Vor über vierzig Jahren haben wir ihn als einen gefährlichen jungen Mann kennengelernt und ziemlich viel Scherereien mit ihm gehabt. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen, die Stimme besorgt bei mir noch immer ein Schaudern, und unter dem runzligen Altmännergesicht verbirgt sich noch immer das Gesicht, das ich einmal gekannt habe.
Hand in Hand
Als ich wach werde, merke ich, dass Karin nicht mehr im Zelt ist. Die Sonne steht bereits ziemlich hoch und brennt auf das Zeltdach.Es ist warm in meinem Daunenschlafsack, mein T-Shirt ist schweißnass. Ich hole eines der letzten beiden sauberen T-Shirts aus meiner Tasche, greife zur Hose, die ich gestern getragen habe, entferne die Hosenbeine, ziehe mich an und gehe nach draußen. Es ist fast halb zehn, das Tal vom Sonnenlicht durchflutet, und es steigt noch immer Dunst auf. Karin ist mit dem Auto weg, wahrscheinlich Brötchen kaufen. Die Berliner Wanderer sitzen vor ihrem Wohnwagen an einem hübschgedeckten kleinen Tisch und frühstücken.
Ich hole mein Handtuch und den Kulturbeutel aus dem Zelt und mache mich in Sandalen zum Waschraum auf. Niemand ist dort. Ich putze mir die Zähne und schütte mir kaltes Wasser ins Gesicht – das muss für heute reichen. Ich trockne mich ab und reibe dabei kräftig über mein Gesicht. Im Spiegel blickt mich das Gesicht eines alten Mannes an: höchste Zeit, übermorgen, wenn ich wieder zu Hause bin, den Bart zu stutzen. Würde mich jemand wiedererkennen wenn er mich eine ganze Weile nicht gesehen hätte? In Verbindung mit meinem Namen schon, denke ich. Harry de Groot hat uns nicht erkannt, zumindest hat er es sich nicht anmerken lassen.
Aber ich habe ihn erkannt, trotz der sechsundvierzig Jahre, die seither vergangen sind. Und dann die Stimme. Er heißt nicht Harry, sondern Jan, Jan Donker, und ich müsste mich schon sehr täuschen,wenn es nicht so wäre. Dass Karin ihn nicht wiedererkannt hat, wundert mich. Aber ich lasse es erst einmal dabei. Ich war froh, als er aus meinem Leben verschwunden war. Letzten Endes ist er auf einem schäbigen Campingplatz in Deutschland gelandet. Nur nichts anmerken lassen, morgen sind wir wieder weg.
Ich sitze auf einem kleinen, niedrigen Stuhl vor dem Zelt in der Sonne und denke an nichts Besonderes. Ein Auto biegt auf den Platz, nicht unser dunkelblauer Volvo, sondern ein grüner Golf mit einem deutschen Nummernschild: Goslar, also hier aus der Nähe. Ein Paar steigt aus, ein Mann und eine Frau Ende dreißig, wie es scheint. Sie überlegen kurz und entscheiden sich dann für einen Platz auf der Wiese, in einer Ecke, an der der graue Schotterweg vorbeiführt, auf dem wir gekommen sind. Ich frage mich, wo der Weg enden mag, wahrscheinlich im Nichts, aber man kann nie wissen. Mein Tablet ist in meiner Reisetasche im Zelt. Ich krieche hinein und suche die Tasche, fühle mich dabei alt und steif. Doch kurz darauf sitze ich wieder bequem auf meinem Stuhl, tippe auf dem Display das Icon von Google Earth an und stelle fest, dass ich kein Netz habe. Der Campingführer und die Karte sind im Auto, vorläufig werde ich also nicht erfahren,wohin der Weg führt.
Das Paar baut doch tatsächlich ein Zelt auf! Mit einem Hammer schlagen sie Felsnägel in den harten Boden. Der Platz ist an verschiedenen Stellen mit Schotter eingeebnet worden. Sie bewegen sich geschmeidig und sehen gut aus, nicht zu dick, wie die meisten heutzutage.
Karin fährt auf den Platz und parkt das Auto neben unser Zelt.
„Am Rand von Lauterberg gibt es einen Aldi. Ich habe es mir leichtgemacht.“
Sie stellt den Karton mit ihren Einkäufen vor das Zelt und gibt mir einen Kuss. Sie hat tatsächlich Brot und Brötchen sowie ein paar Lebensmittel für ein einfaches Abendessen gekauft.
Ich schaue ihr beim Verstauen der Einkäufe zu: wie sie Dinge aus der großen Plastikbox herausnimmt ‒ die mit dem Deckel, die immer vor dem Zelt steht ‒, und andere Dinge wieder hineintut. Graue Haare hat meine Karin, an einigen Stellen sind sie sogar weiß. Die Haut an ihrem Hals ist faltig. Aber sie hat noch stets den wachen Blick hinter den Brillengläsern. Sie ist immer noch schlank, und auch nach achtundvierzig Jahre hat sie noch nichts von ihrer Beweglichkeit verloren. Wie ist das möglich? Und wie ist es möglich, dass man gerührt ist, wenn man es sieht?
Sie stellt mir eine Packung Kaffee hin. Aus der Kiste ohne Deckel, die ebenfalls vor dem Zelt, aber auf der anderen Seite steht, hole ich den Gaskocher, den Kaffeefilter und die Thermosflasche.
Woher kommt meine Rührung? Ist es, weil ich sie wirklich so besonders finde? Oder kommt es daher, dass ich mich bei ihr sicher fühle, weil zwischen uns beiden alles so durch und durch vertraut ist? Wäre das mit einer anderen Frau nach fast fünfzig Jahre auch so?
Etwas später essen wir die Brötchen und trinken Kaffee.
„Eine komische Geschichte ist das mit diesem Harry und seinem Campingplatz“, sage ich.
„Der Typ ist mir nicht ganz geheuer“, erwidert Karin.
Einen Moment überlege ich, ob ich den Namen Jan Donker erwähnen sollte. Aber zum Glück kann ich mich noch rechtzeitig beherrschen.
Das Wetter ist herrlich, Karin möchte spazieren gehen. Wir könnten den Schotterweg nehmen, der über den Platz läuft. Er verschwindet im Wald, neben dem Zelt des frisch eingetroffenen Paares mit dem Golf.
Ich studiere meine zwanzig Jahre alte Wanderkarte vom Harz. Wir könnten über einen etwa vier Kilometer langen, allmählich schmaler werdenden Pfad, der durch dasTal führt, einen Hang hinaufsteigen. In einer Stunde hätten wir dann ungefähr hundertfünfzig Höhenmeter überwunden. Der Weg führt also nicht ins Nichts – auf der anderen Seite des Tals würde man über einen ähnlichen Pfad wieder absteigen.
Wir könnten eine Runde machen.
In dreihundert Meter Entfernung vom Campingplatz gibt es einen Weg quer durch das Tal, der über einen Damm verläuft, hinter dem sich laut Karte ein großer Teich oder See befindet – wahrscheinlich das ehemalige Wasserreservoir einer Zeche. Ich zeige es Karin.
„Würde dir das gefallen? Ein Spaziergang von knapp zwei Stunden, schätze ich. Aber das ist eine alte Karte, vielleicht haben sich Teile des Wegs geändert oder sind nicht mehr begehbar. Dann kann es auch länger dauern.“
„Das macht nichts, wir nehmen einfach etwas zu essen mit, ist doch schön“, sagt sie. „Kann man in dem See schwimmen?“
„Keine Ahnung”, erwidere ich. „Wie viel Wasser in dem See ist, weiß ich natürlich auch nicht.“
Wir packen Badezeug und Handtücher in unsere kleinen Rucksäcke und nehmen Obst, Brote und ein paar kleine Flaschen Apfelsaft mit.
Um uns herum ist alles grün, feucht und warm: die Fichten und Tannen, die Sträucher und Kräuter am Waldesrand. Unten im Tal, zu unserer Rechten, liegen die großen Wiesen mit Pestwurz, Engelwurz, Spierstrauch und Bärenklau. Irgendwo zwischen all dem Grün muss der Bach fließen, der den Teich mit Wasser versorgt.
Der Wald wird rasch dichter. Von dieser Seite aus können wir den See nicht sehen. Der Weg ist jedoch gut begehbar.
Wir sind eine knappe Stunde gewandert. Am höchsten Punkt unserer Route steht eine Bank.Man kann hier auch links abbiegen, doch dann gelangt man vermutlich in ein anderes Tal. Die Bank ist aus Hartholz gemacht, und es scheint, als würde sich regelmäßig jemand um sie kümmern.
„Lass die Wanderkarte ruhig in deinem Rucksack“, meint Karin. „Wir gehen gleich einfach wieder runter.“
Wir setzen uns auf die Bank und trinken etwas. Sie lehnt sich an mich, legt ihre Hand auf meinen Schenkel. Um uns herum stehen Laubbäume, die Sonne scheint zwischen den Blättern hindurch. Zwei Meter vor uns hüpft eine Amsel herum und pickt immer wieder mit dem Schnabel in den Boden. Im Wald bleiben Vögel meist ein wenig auf Abstand. Dieser nicht. Er findet einen Wurm.
Solange schon wandern wir zusammen durch die Natur: damals als frischverliebtes Paar, mit Karins Mutter in den Hügeln bei Utrecht oder mit meinen Eltern im Gaasterland, später dann mit unseren kleinen Kindern und noch später mit unseren großen Kindern und jetzt auch gelegentlich mit den Enkelkindern –oder wir spazieren mit Karins Mutter hinter ihrem Rollator durch den Park.
Nach gut drei Kilometern hangabwärts führt uns der Weg endlich an den See. Das Tal fällt nach Süden hin ab, der See liegt komplett im Sonnenlicht. Besonders groß ist er nicht, aber tief: das Wasser ist vollkommen klar, so dass man bis auf den Grund sehen kann. Das Laub des vergangenen Herbstes liegt auf dem Boden des Sees. Die feuchte Augustwärme umfängt uns.
Karin legt ihre Hand auf meinem Arm. „Sei mal leise!“, flüstert sie. Wir hören Stimmen, leises Lachen, und sehen, dass das Wasser leicht in Bewegung ist. Vorsichtig gehen wir w eiter. Der Weg macht eine Biegung, und nun sehen wir zwei Schwimmer, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt. Hier ist der Querdamm, an dem der See gestaut wird, mit einem Pfad, der zur anderen Seite läuft und auf dem ein paar spärliche Bäume stehen – Birken und Schwarzerlen – sowie eine Bank, auf der Kleidungsstücke liegen.
Die beiden Schwimmer sehen uns ebenfalls, erschrecken ein wenig und lachen verschämt. Neben der Bank ist ein Schild angebracht, auf dem steht, dass das Schwimmen untersagt ist. Die beiden sind nackt, was in dem klaren Wasser unschwer zu erkennen ist. Wir lachen ebenfalls, ohne Scham, eher überrascht. Doch warum sollte man an einem so schönen Augusttag nicht in einem See mit so klarem Wasser schwimmen? Es ist das Paar vom Campingplatz, das mit dem Golf. „Wir haben hier als Kinder schon gebadet“, sagt der Mann. „Es ist so schön und still hier“, fügt die Frau hinzu.
„Kommst du mit?“ Karin zieht sich aus und sieht dabei zu, wie ich, etwas verwirrt, dasselbe tue. Unsere Sachen und die Rucksäcke mit dem Badezeug legen wir ebenfalls auf die Bank. Es ist bestimmt eine herrliche Szene: zwei Leute in den Sechzigern mit Falten und runzligen Körpern, die sich nackt zum Schwimmen aufmachen. Das Pärchen im Wasser lacht und applaudiert. Karin springt in den See, ich lasse mich so vorsichtig wie es geht vom steilen Ufer ins Wasser gleiten. Es ist noch kälter als ich gedacht hatte. Ich schwimme Karin hinterher, so schnell ich kann, aber sie schwimmt noch schneller. Das hat sie immer schon gut gekonnt. In der Mitte des Sees stelle ich meine Schwimmbewegungen ein; ich habe keinen Grund unter den Füßen, trete Wasser, ganz langsam, und betrachte das Grün am Ufer. Danach schwimme ich auf dem Rücken langsam wieder zurück zu dem Damm mit den Birken und Schwarzerlen. Die obere Wasserschicht ist wärmer als die darunter, es weht ein sanfter Wind, in dem sich die Wipfel der Bäume träge hin und her wiegen.
An dem schmalen Damm suche ich eine geeignete Stelle, um wieder aus dem Wasser zu steigen, doch es gelingt mir nicht, ohne mich an dem schlammigen Uferrand schmutzig zu machen. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, spüle ich den Schmutz mit Wasser ab, das ich mit den Händen aus dem See schöpfe. Ich gehe zur Bank, schiebe die herumliegenden Kleidungsstücke etwas zur Seite, setze mich und lasse mich in der Sonne trocknen.
Währenddessen beobachte ich die drei, wie sie im Wasser ihre Kreise ziehen: brustschwimmend, kraulend, auf dem Rücken, herumspritzend. Eine Viertelstunde später reiche ich Karin die Hand, damit sie aus dem Wasser steigen kann, ohne sich an der schlammigen Böschung schmutzig zu machen. Die andere Frau kommt hinter ihr her und streckt ebenfalls ihre Hand aus, damit ich ihr aus dem Wasser helfen kann. Der Mann lacht und steigt ohne Hilfe, schnell und ohne die schlammige Böschung zu berühren, aus dem See.
Später gehen wir zu viert zurück zum Campingplatz. Das junge Paar vor uns, Hand in Hand, und wir hinterher, ebenfalls Hand in Hand.
AlteKameraden
Harry trägt heute eine Jeans, Sportschuhe und ein blaues T-Shirt. Er ist schon vor sieben da, erklärt, dass er gleich einen Termin in Goslar habe und sofort wieder wegmüsse. Er möchte vierzig Euro für die beiden Nächte haben, Jitse gibt es ihm in bar, und Harry wünscht uns eine gute Heimreise. Dann geht er zu dem Mann weiter oben auf der Terrasse, begrüßt ihn und unterhält sich kurz mit ihm, steigt wieder nach unten, winkt den beiden Berlinern zu und fährt mit seinem Mercedes davon. Ich fühle mich erleichtert.
„Der hat es heute eilig“, ruft unser Nachbar herüber. Wir lächeln ihm zu. Wir sitzen vor dem Zelt, essen die Ravioli, die ich im Aldi gekauft habe, und trinken Wein. Als wir vom Wandern und Schwimmen zurückgekommen waren, stellten wir fest, dass auch unser Nachbar inzwischen eingetroffen war. Er ist ein netter, ruhiger Mann, etwas jünger als wir, mit einem offenen Gesicht und dicken, schwarzgrauen Haaren. „Klaus Meyer“, stellte er sich vor. Wir gaben uns die Hand.
Für einen kurzen Moment packt mich die Neugier, wie aus Jan Donker Harry de Groot geworden ist, und wie er an den Campingplatz hier gekommen ist. Schlag dir das aus dem Sinn, rufe ich mich aber sofort zur Ordnung. Soll ich Jitse sagen, dass ich ihn wiedererkannt habe? Nein, das ist zwecklos, das hier war unangenehm und einmalig, wir haben keine guten Erinnerungen an ihn, lass es sein.
Während ich die Ravioli warm gemacht habe, hat Jitse geduscht. Jetzt gehe ich duschen, er macht derweil beim Zelt den Abwasch. Ich lasse das warme Wasser lange über meine Schultern und den Rücken laufen, reibe mich kräftig mit dem Handtuch ab und massiere anschließend After-Sun-Lotion in mein eimmer schlaffer werdende Haut. Es fühlt sich angenehm an, trockene und saubere Kleidung anzuziehen. Vor einem Spiegel mit bräunlichem Rand bringe ich mit der Bürste mein nasses, graues Haar wieder etwas in Form. Es ist noch nicht spät,so dass mein Haar bestimmt noch trocknet, bis wir schlafen gehen.
Mit einem Gefühl der Zufriedenheit stelle ich mir den Rest des letzten Ferientags vor: noch eine Weile vor dem Zelt sitzen, lesen, Kaffee trinken, anschließend ein Glas Wein und ab und zu über den Buchrand hinweg ins Tal schauen, bis die Dämmerung einsetzt und es zu dunkel zum Lesen wird.
Den Kaffee hat Jitse so gut wie fertig, und anscheinend hat er auch den Nachbarn dazu eingeladen. Wir kommen gleichzeitig beim Zelt an, und er stellt den mitgebrachten Klappstuhl auf. Er hat eine Tafel Schokolade bei sich, bricht sie in Stücke und legt das auseinander gefaltete Papier mit den Schokoladenstücken neben die Becher, die Jitse auf den kleinen Tisch gestellt hat. Statt entspannt ein Buch lesen zu können,werden wir jetzt also Deutsch reden müssen – was mich anstrengt, da ich mich dabei stark konzentrieren muss. Aber ich kann Klaus Meyer natürlich nicht wegschicken.
Jitse ist immer noch neugierig, was den Campingplatz betrifft, und fragt Klaus, wie lange er hier schon Dauergast sei.
„Schon ziemlich lange“, sagt Klaus. „Es ist ein wunderbarer Ort, um Ruhe zu finden.“ Harry hat uns gestern erzählt, dass Klaus den Platz von seinen Eltern übernommen hätte. Das weiß Jitse also, und somit weiß er auch, dass Klaus schon fast ein Menschenleben lang Dauergast ist.
„Ihr habt euch gestern mit Harry unterhalten?“, fragt Klaus.
„Ja“, bestätigt Jitse, „es ist ein merkwürdiger Platz. Wie aus der Zeit gefallen. Und doch ein Ort, der Möglichkeiten bietet. Mich interessiert immer die Geschichte eines solchen Ortes. Dazu hat Harry nichts gesagt.“
„Ich bin hier jahrelang nicht gewesen“, sagt Klaus. Er nimmt ein Stück Schokolade in den Mund und lutscht daran. „Und zwar gerade wegen der Geschichte.“
Es ist eine Weile still. Klaus trinkt seinen Kaffee in kleinen Schlucken.
Jitse erzählt, dass wir am liebsten auf kleinen Plätzen mitten in der Natur zelten.
Klaus reise nicht gern, vertraut er Jitse an. Er erzählt, dass er als Kind oft hier gewesen sei, in späteren Jahren dann aber kaum noch. Seine Eltern hätten fast jedes Wochenende hier verbracht, und er selbst sei ab und zu mit seiner Frau und den Kindern vorbeigekommen. Doch jetzt sei er von seiner Frau geschieden, die Kinder stünden längst auf eigenen Füßen, und seine Eltern seien vor sechs Jahren gestorben. Aber es habe den Stellplatz noch gegeben. Und heute sei es hier zum Glück ganz anders als früher. Ein prima Ort, um Ruhe zu finden und sich zu erholen.
Klaus sei hier jetzt wieder oft am Wochenende. Ab und zu, wenn auch nur selten, komme seine Tochter mit ihrem Freund zu Besuch. Er erzählt auch, was er beruflich macht, doch dem kann ich im Deutschen nicht ganz folgen. Es ist etwas Technisches bei VW in Wolfsburg, soviel verstehe ich.
Jitse verschweigt, dass er Bürgermeister ist. Er sagt, er sei „Kommunalbeamter“.
„War es früher anders auf diesem Platz?“, fragt Jitse. Klaus zögert. Jetzt nimmt Jitse ein Stück Schokolade.
Gib ihm doch ein bisschen Zeit, denke ich.
Aber Klaus will seine Erzählung offenbar doch fortsetzen.
„Dieser Campingplatz hat eine besondere Geschichte“, beginnt er.
Klaus sieht uns mit einem scheuen Lächeln an.
„Die Anlage ist früher von den Nazis genutzt worden. Es war kein KZ, versteht mich nicht falsch. Anfang der Dreißigerjahre hat die SA den Platz angelegt, als eine Art Ferien- und Trainingslager für ihre Jugendgruppen.“
Klaus fragt, ob wir wüssten,was die SA gewesen sei.
„Nicht genau“, antworte ich. Jitse sieh tmich verstohlen an. Ich weiß es natürlich schon so in etwa, aber es kann nicht schaden, wenn Klaus es noch einmal erklärt.
„Ursprünglich war die SA, das ist die Abkürzung für ‚Sturmabteilung‘, eine Gruppe von organisierten Straßenkämpfern und Provokateuren. Anfangs, noch bevor die Nazis an die Macht gelangt waren, war es eine wichtige Kampforganisation der NSDAP, bestehend aus paramilitärischenBanden, die die Bürger einschüchterten und zugleich eine große Anziehungskraft auf bestimmte Typen ausübten: Leute, denen es Spaß machte, dass man Angst vor ihnen hatte. Viele wollten Teil dieser SA sein.“
„Und das hat sich dann geändert?“, frage ich. Klaus nickt.
„Die SA wurde zu einer Organisation, die in der nationalsozialistischen Bewegung viel Macht hatte. Aber als die NSDAP erst einmal zur einflussreichsten politischen Partei in Deutschland geworden war, brauchte man sie nicht mehr so dringend. Die Mitglieder der SA lehnten es ab, sich den Anordnungen der Partei zu fügen – die Organisation sah sich nun einmal als die einzige echte Vorhut des Nationalsozialismus. Ihr Führer Ernst Röhm versuchte, in der Partei die Macht zu ergreifen, wollte mit seiner SA sogar stärker werden als die Reichswehr. Das reichte Hitler, und er hat ihn ermorden lassen, 1934, glaube ich. Danach war die SA nur noch ein Randphänomen.“
Klaus weiß, wovon er spricht.
Er sieht uns an, als wolle er sich entschuldigen.
„Vielen Dank“, sage ich, ich möchte ihn spüren lassen, dass ich seine ausführliche Erklärung schätze.
Er lächelt.
„Irgendwann in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre wurde aus ‚Talblick‘ dann ein Ferienlager der ‚Kraft durch Freude‘, einer nationalsozialistischen Organisation, die Freizeitaktivitäten unter anderem für Arbeiter organisierte. Gegen Kriegsende ist es einem prominenten Parteigenossen und Mitglied der KdF gelungen, der KdF das Lager abzukaufen. Die Organisation war damals schon am Ende, eigentlich hat er den Platz zu einem Spottpreis an sich selbst verkauft.“
Ich nehme nun auch ein Stückchen Schokolade.
Bah! Ich weiß nicht, ob ich das alles hören möchte. Gleichzeitig bin ich aber auch neugierig auf den Rest der Geschichte.
„Kurz nach dem Krieg war niemand an diesem kleinen Lager in einer abgelegenen Gegend interessiert. Es gab zwar noch zwei Baracken, aber damit konnte man nicht viel anfangen. Der Eigentümer versuchte, dafür eine Nutzungsgenehmigung als Auffanglager für Flüchtlinge aus dem Osten zu bekommen, aber dafür war der Zustand zu schlecht: kein Strom, kein fließend Wasser ‒ also nicht zu gebrauchen.
Der Eigentümer, dieser ehemalige Nazi, saß wenige Jahre nach Kriegsende schon wieder auf einem Posten in einer neuen Behörde bei der Kreisverwaltung. Er war in der SS gewesen, hatte in Russland gekämpft und kam dann mitten im Krieg mit irgendeiner Verletzung zurück, danach hat er die Stelle bei der KdF angetreten.“
Klaus sieht mich fragend an. Wahrscheinlich vermutet er bei Jitse mehr Wissen über die Nazi-Zeit als bei mir.
„Die SS – ich weiß, das war der sadistische Stoßtrupp der Nazis“, sage ich.
Er lächelt wieder.
„In den Fünfzigerjahren hat er dann die verfallenste der beiden Baracken abreißen lassen. In den Sechzigerjahren, als ich ein Kind war, stand die andere noch, das war damals ein Sanitärgebäude, und es gab eine Art Kantine darin.“
Ich will ihn fragen, wie und warum er als Kind hierhergekommen ist, und suche nach den richtigen deutschen Wörtern. Jitse schenkt uns Kaffee nach. Klaus blickt ins Tal hinab.
„Sie sind hier damals als Kind auch schon regelmäßig gewesen?“, frage ich ihn.
„Ich kam hier, weil mein Vater auch ehemaliges SS-Mitglied war. Der Eigentümer hat hier mal eine Party für alte Kameraden gegeben, und da haben sie sich sofort entschlossen, regelmäßig so ein Treffen zu organisieren. Es ging hier lebhaft zu, so mit allen Brüdern im Geiste versammelt. Ich schätze, dass hier in den Sechziger- und Siebzigerjahren an die vierzig Wohnwagen standen. Abends saß man gemeinsam am Lagerfeuer. Die ersten paar Stunden war es noch recht gemütlich, aber später am Abend, wenn die Kinder dann im Schlafsack lagen, erzählten sie sich von ihren Fronterlebnissen und sangen Nazilieder, manchmal zwei- oder sogar dreistimmig. Wir kamen heimlich aus unseren Schlafsäcken und schlichen uns ans Feuer, um die Geschichten zu hören. Für mich als Kind war es verwirrend. Und ich glaube, den anderen Kindern ging es nicht anders.“
Der Golf biegt auf denPlatz. Die beiden Schwimmer haben irgendwo zu Abend gegessen, vermute ich. Sie steigen aus und winken uns zu. Auch Klaus winkt zurück.
„Johann und Anna. Johann ist ein Enkel des ehemaligen Eigentümers. Ich war ein Teenager, als seine Mutter zum ersten Mal mit ihm als Baby hierher kam, ein paar Monate nach der Geburt. Ich weiß noch, dass der harte Kern der Camper um sie und das Kind herum stand und die beiden fast begeistert willkommen geheißen hat“, erzählt Klaus.
Ich erinnere mich, dass ich bewundernd Johanns kräftigen Körper betrachtet habe,als er am Nachmittag aus dem Wasser stieg.
„Ich kroch wieder ins Bett,wenn ich genug von den Szenen am Feuer hatte“, fuhr Klaus fort. „Die anderen auch. Am nächsten Tag sprachen wir nicht über das, was wir gehört und gesehen hatten. Meine Eltern habe ich auch nicht danach gefragt.“
Ich versuche mich in die Lage der Kinder von damals hinein zu versetzen. Klaus hatte gesagt, es sei verwirrend für ihn gewesen. Was für ein Bild bekommt man von seinen Eltern, wenn sie so zwitterhaft zu verbergen suchen, dass sie mit Sehnsucht an eine Zeitzurück denken, die von Schuld und Tabus umgeben ist? Ein Bild,an das man sich nicht gern erinnern möchte, könnte ich mir vorstellen.
„Seht ihr euch noch, die Kinder von damals?“, frage ich. „Nein“, antwortet Klaus. „Ich bin der Einzige, der hier noch regelmäßig an den Wochenenden kommt. Auch Johanns Eltern sehe ich hier fast nie mehr.“
Es hat diesen Kindern kein bleibendes Band eingebracht. Nichts Gemeinsames, das man später miteinander teilen möchte. Aber das war auch schlecht möglich. Was die Väter verband, war ihr verkanntes Heldentum, die Kameradschaftsgetue und das Gefühl der Überlegenheit. Die Kinder machten dabei nicht mit, sie spielten keine Rolle. Und mit dem, was die Kinder gemeinsam hatten, Geschichten aus der belastetenVergangenheit ihrer Väter, konnte man sich in der Außenwelt nicht blicken lassen.
War dieser ehemalige SS-Mann, der Großvater Johanns, derjenige, der den Platz an Harry de Groot verkauft hatte?
Ich frage Klaus danach.
„Das ist in der Zeit passiert, als ich hier nicht regelmäßig kam“, erinnert er sich.
„Sie kannten Harry also nicht?“
„Doch, natürlich“, sagt Klaus.
Man sieht ihm an, dass er seine Gedanken ordnet. Vielleicht ist es das erste Mal, dass er diese Geschichten mit anderen teilt.
Weil wir ihn danach gefragt haben.
Es kann gut sein, dass es vorher niemand getan hat.
„Es ist sehr ungewöhnlich, gerade auf so einem Campingplatz einem niederländischen Inhaber zu begegnen“, führe ich meinen Gedanken fort.
Der dann auch noch einen falschen Namen benutzt – aber das kann ich natürlich nicht laut sagen.
Jitse schenkt uns den letzten Rest Kaffee ein.
Klaus bewegt den Kopf ein paar mal auf und ab.
„Es ist für mich auch ungewöhnlich, über diese Dinge zu reden“, sagt er.
Und er lächelt erneut.
Klaus reibt sich mit Zeigefinger und Daumen über die Stirn.
„Harry tauchte hier erstmals in den Achtzigern auf. Der Kreis der alten Kämpfer, also die Gruppe der Dauergäste, wurde damals schon kleiner. Ihre Kinder waren erwachsen geworden und wollten hier mit ihren eigenen Kindern nicht mehr hin. Sie selbst waren damalsum die siebzig, die ehemaligen Frontsoldaten und KZ-Wächter. Die meisten hatten eine gute Rente oder ein kleines Kapital und verbrachten ihren Urlaub lieber irgendwo im warmen Ausland. Das ging Stück für Stück. Aber es gab noch immer einen harten Kern, der hier regelmäßig kam. Einer von ihnen, Peter, ein Junggeselle, etwas jünger als die anderen, führte Harry dann als neuen Gast ein. Meine Eltern kamen hier zu der Zeit noch öfter zum Campen.
Es war kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes – meine Frau und ich waren hier gerade zu Besuch. Ich saß am Lagerfeuer und fragte mich mal wieder, was ich hier eigentlich noch zu suchen hätte, alsuns dieser Peter Harry vorstellte, ein Geistesverwandter aus Holland‘. Das hat mir endgültig den Rest gegeben. Ich dachte: Jetzt reicht es mir, es fängt wieder von vorn an, und jetzt auch noch mit Neo-Nazis aus dem Ausland.“
„Danach bin ich eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen. Über zwanzig Jahre. Ich war inzwischen geschieden, und meine Eltern waren auch schon gestorben, als ich zwei Jahre später einen Brief von Harry bekam, dass ihr Caravan noch immer auf dem Campingplatz stehen würde. Ich solle ihn abholen oder Platzmiete bezahlen. Als ich den Wohnwagen holen wollte, hat mich der Blick über das wunderschöne Tal überwältigt, das mittlerweile zum Naturschutzgebiet erklärt worden war. Ich fand es herrlich hier, und das andere hatte nicht von Neuem angefangen. Von der alten Garde war keiner mehr hier, außer Harry. Johann und Anna kamen ab und zu mal für ein paar Tage. Die alte Baracke mit der Kantine war weg. Dann und wann kamen Gäste, die aber mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun hatten, es gab keinen mehr, der am Lagerfeuer mit seinen Fronterlebnissen aufschnitt.“
Er nimmt einen Schluck von dem inzwischen kalten Kaffee.
„Manchmal möchte ich gern allein sein. Ich habe mir die Sache also noch mal überlegt und gedacht: ich behalte den Platz.“
Er sieht Jitse und mich an und lächelt wieder.
„Ich weiß eigentlich nicht, ob Harry wirklich ein Geistesverwandter, also ein Nazi, war. So wurde er uns vorgestellt. Ich habe ihn erst nach langer Zeit wieder gesehen und nie mit ihm über diese Dinge gesprochen. Das wird mir jetzt erst bewusst. In meiner Erinnerung ist er einer von der braunen Truppe, aber er war natürlich eine Generation jünger als meine Eltern.“