Rezension uber “Das sinnvolle Leben”:

  • Einst habe ich auf einer grünen Wiese getanzt
    (Doeke Sijens, LC)
  • Eine Bake für die Zukunft
    (Lomme Schokker, Ensafh)

Einst habe ich auf einer grünen Wiese getanzt

Titel: It sinfol bestean (Das sinnvolle Leben)
Autor: Willem Verf
Verlag: Afûk, Leeuwarden
Preis: 19,50 Euro (256 Seiten)

Karin und Jitse sind immer noch Idealisten. Sie streiten für eine bessere Welt, der eine als Bürgermeister, die andere als Mitglied des Provinzparlaments. Dass sie dabei gelegentlich Konzessionen machen müssen, finden sie normal – schließlich sind sie beide auch Realisten. Sie kommen aber auch mit dem Bösen in Kontakt. Zunächst einmal gibt es da einen gewissen Jan Donker, Händler in Drogen, dem Karin und Jitse, schon als sie noch jung waren, am liebsten aus dem Wege gingen. Er hat in seinem Leben viel falsch gemacht. Werden die beiden ihm helfen, jetzt, wo er alt und krank ist?
So gibt es mehrere Dinge, die Jitse und Karin zwingen, einen Standpunkt einzunehmen. Die Partei, für die Jitse immer mit Überzeugung gearbeitet hat, verliert fast ihre gesamte Anhängerschaft. „Wir haben viel zu sehr die liberale Richtung eingeschlagen.“ Jitse tut, was er kann, um ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten und durchzusetzen, das die Partei zwingen soll, „zu ihren Wurzeln zurückzukehren und sich ihre Ausgangspunkte noch einmal anzusehen.“ Karin hat mit ihrer Partei Progressyf Fryslân einen Sitz im Provinzparlament, und auch sie und ihre Partei müssen alles Mögliche tun, um „erkennbar“ zu bleiben und nicht in der „grauen Mitte“ verloren zu gehen. Und schließlich haben sie auch noch private Sorgen: eine Tochter, die einen falschen Freund hat.
Willem Verf setzt die aktuelle Situation in Kontrast zu der Zeit, in der sich Jitse und Karin noch in der Ausbildung zu Sozialarbeitern am Instituut Duinoord befanden. Wunderbar beschreibt er das Studium dort und den Umgang der Studenten miteinander. Hervorragend gelungen ist es ihm ins besondere, den Drang zu schildern, Menschen zu helfen und sie von ihren Vorurteilen zu befreien.
Die positive Lebenseinstellung jener Tage ist wirklich überwältigend. Doch darauf folgt der Kater. „Und dann die Arbeit die uns gestohlen worden ist: nicht nur einfach Arbeit, Therapie, Bildungsarbeit, sondern auch die Unterstützung, die gerade den Menschen vorenthalten wird, denen es nützen würde. Früher einmal habe ich auf einer grünen Wiese am Waldrand getanzt, weil ich Kreativtherapeutin werden durfte ‒ zwanzig Jahre später gab es den Beruf nicht mehr. Und zu dem Zeitpunkt war auch Jitses Bildungsarbeit schon fast weggespart worden.“
Der Autor springt kundig zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und bringt so Spannung in die Erzählung. Sein Stil lässt sich vor allem als sachlich beschreiben. Es ist deutlich seine Absicht, die Geschichte nicht mit psychologischen Betrachtungen zu überfrachten, sondern die Deutung der Ereignisse dem Leser zu überlassen. „Als wir dort ankamen, war meine Schwester da. Zu dritt tranken wir Tee, und Mama hatte noch Kekse in einer Dose, die sie letzte Woche selbst gebacken hatte.“
Der mit spitzer Feder geschriebene Roman über ein sympathisches Paar schließt mit dem Manifest, für das Jitse gekämpft hat. Es bleibt zu hoffen, dass es von möglichst vielen Menschen in der friesischen Politik gelesen wird.

Doeke Sijens
(Leeuwarder Courant vom 16. Februar 2018)

Eine Bake für die Zukunft

Rezension von Lomme Schokker
erschienen in der friesischen Literaturzeitschrift Ensafh (Nr. 2, 2019)

Es ist heutzutage nicht so einfach, als sozialdemokratischer Politiker aktiv zu sein, vor allem in Friesland. Seinerzeit stand hier bei uns mehr oder weniger die Wiege der Sozialdemokratie, doch diese Geschichte hat sich überholt. Die Prinzipien der Vergangenheit haben sich allmählich aufgelöst oder sich dem Neoliberalismus ausgeliefert, man läuft mit dem Kopf gegen die Wand, und die Stimmungsumfragen zu deiner eigenen Partei ohne Basis sind zum soundsovielten Mal miserabel. Und dann ist man mit Herz und Seele in dem linken, progressiven Denken verwurzelt, das man in den berühmten Sechzigerjahren mit der Muttermilch eingesogen hatte, das aber heute für weitaus die meisten Menschen kaum noch von Bedeutung ist. Es sagt ihnen nichts mehr. Man fühlt sich so langsam wie ein Requisit aus der Vergangenheit. Wie kann man dann am Ende einer langen Karriere, in der man sich für eine gerechte Welt abgerackert hat, bloß noch daran festhalten, dass das Leben einen Sinn hat?
Die Politik als Setting für einen Roman über ein sinnvolles Leben – das muss man sich erst einmal trauen. Willem Verf ist es gut gelungen, weil er, als roten Faden, die schädlichen Effekte der Drogenszene plastisch vor dem Hintergrund unseres damaligen,seltsamen Studentenlebens darstellt. Denn es war eine schöne Zeit: nackt auf der Heide tanzen, mit lauter Stimme die Gedichte von Lodeizen und Neeltje Maria Min vortragen und bei einer Platte von Joan Baez auf dem orangefarbenen Teppich herumknutschen, vor einem Ofen, in dem der Rauchabzug nicht richtig funktionierte und die Gasflasche zu den unpassendsten Momenten den Geist aufgab. All das, und zwischendurch die Gesellschaft verändern. Wir hatten alle Hände voll, wussten es nicht besser und wollten es nicht anders.
Jitse de Vries ist Bürgermeister einer Gemeinde im Nordwesten Frieslands, die in Kürze ihre Eigenständigkeit verlieren wird, und steht damit vor dem Ende seiner Karriere in der (Lokal-) Politik. Er verfügt nur noch über wenig Leidenschaft und ist in den Augen seiner Frau „kämpferisch, aber ohne Biss“. Das sieht er selbst auch so. „Der Besuch des Rathauses resultiert in einer eigenartigen Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung: Ich hätte gern einen Haufen wichtiger Arbeit, und zugleich finde ich es eigentlich in Ordnung, dass es sie nicht gibt“ (S. 28). Es scheint, als ob Jitse mehr Lust dazu hätte, ein neues landesweites Grundsatzprogramm für seine Partei zu erstellen. „Ich hänge an diesen Grundsätzen, obwohl ich natürlich auch weiß, dass kaum einer sie lesen wird. Aber trotzdem: Sie zwingen die Partei dazu, sich auf ihre Ausgangspunkte zu besinnen“ (S. 29). Jitses Frau, Karin Blauw, ist ebenfalls in der Politik aktiv, aber erst in reiferem Alter dazu gestoßen, nachdem ihre Stelle im sozialpsychiatrischen Dienst wegrationalisiert worden war. Derzeit ist sie Fraktionsvorsitzende der Partei Progressyf Fryslân im Provinzparlament, einer Partei, die der Provinzregierung angehört. Doch das bringt, ungeachtet ihrer handwerklich soliden Machtpolitik, einen Haufen Ärger mit sich: „Ich trage zu einer schlechten Politik bei. Damit will ich aufhören“ (S. 69).
Jitse hat Karin in Amersfoort während einer der berühmten sozialpädagogischenMiKoJel-Ausbildungen kennengelernt. Jitse machte dort eine Ausbildung zum Sozialarbeiter in einer soziokulturellen Richtung, um damit später in die Bildungsarbeit zu gehen, während Karin den Schwerpunkt kreative Therapie studierte.
Einer ihrer Mitbewohner war Jan Donker, ein schon etwas älterer, „psychopathisierter“ Student, der mit Drogen handelte und ein Talent dafür besaß, psychisch instabilen Mädchen Schaden zuzufügen. So auch seiner Freundin Eefje, ebenfalls einer Mitbewohnerin und Kommilitonin von Jitse und Karin, die Schritt für Schritt in Jans Bann gerät, dem sie mit Haut und Haaren verfällt. Und das muss natürlich schiefgehen.
Die Erinnerung an Eefjes Geschichte wird wieder wach, als Jitse und Karin auf der Rückreise von einem Urlaub in Tschechien Jan, unter einem anderen Namen, als Eigentümer eines heruntergekommenen Campingplatzes im Harz begegnen. Nicht viel später nimmt Jan Kontakt zu Jitse und Karin auf, denn die beiden sind die Einzigen, bei denen er, kurz vor seinem Tod, noch reinen Tisch machen kann. Die Gespräche mit dem sterbenden Jan verstärken bei den beiden den Prozess der Besinnung darauf, was noch, oder wieder, sinnvoll ist, nun, da sie mehr freie Zeit bekommen. „Wenn wir nur auf die Menschen achten, die wir nett finden“, lässt Willem Verf Jitse sagen, „wird es nie was mit der Gesellschaft. “Und: „Wenn wir das Gespräch miteinander nicht suchen“, sagt ein anderer Politiker, „laufen wir Gefahr, dass wir gegenseitig verhärten, und das führt auch zu nichts.“
Verf arbeitet in seinem Buch mit zwei auffallenden Elementen. Das erste besteht darin, dass sich die Kapitel konsequent in ihrem „point of view“ zwischen Jitse und Karin abwechseln. Das funktioniert meiner Auffassung nach bemerkenswert gut. Verf gelingt es, beiden Protagonisten eine eigene Stimme zu geben. Noch besser wäre es übrigens gewesen, wenn er beiden auch einen unterschiedlichen Schreibstil und vor allem eine sich voneinander unterscheidende Wortwahl zugestanden hätte.
Wenn Jitse das Wort führt, erhält man eine eher sachliche Aufzählung der Vorkommnisse, so wie es Männer öfter machen, wohingegen Karins Geschichte mit einer ordentlichen Dosis psychologischer Beobachtungen komplettiert wird. Jitse: „Ich steige die Natursteintreppe hinauf und trete ein. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich immer ganz wohl in dem alten Gebäude. Es ist nicht so, dass ich hier ein und aus gehe, vielleicht bin ich in meiner ganzen Karriere zwanzig Male hier gewesen, aber es hat etwas Vertrautes, man ist in einem Haus mit Geistesverwandten, etwas in der Art. Ich werde mich daran gewöhnen müssen, wenn es demnächst verkauft worden ist. Die Parteiführung braucht Geld, und diese Grachtenhäuser bringen Millionen ein. Die Partei zieht in ein preiswerteres modernes Bürogebäude etwas weiter vom Zentrum entfernt“ (S. 58). Jitse, so der Eindruck, ist weniger auf dem Quivive als Karin. Er scheint nicht so eine Kämpfernatur zu sein und trägt sich ständig mit all seinen Fragen. Jitse hat zwar mehr Pflichtgefühl als Karin, aber weniger Selbstvertrauen.
Karins Verhalten ist konsistent zu dem Verhalten, als Jitse sie am ersten Tag an der Akademie kennenlernte. Sie ist nüchterner und praktischer, ergreift rascher die Initiative, wenn etwas danebengehen kann, und neigt mehr zum Beobachten und Interpretieren als Jitse. Sie bereitet sich sorgfältiger vor und akzeptiert die Dinge so wie sie sind. „Für einen kurzen Moment packt mich die Neugier, wie aus Jan Donker Harry de Groot geworden ist und wie er an den Campingplatz hier gekommen ist. Schlag dir das aus dem Sinn, rufe ich mich aber sofort zur Ordnung. Soll ich Jitse sagen, dass ich ihn wiedererkannt habe? Nein, das ist zwecklos, das hier war unangenehm und einmalig, wir haben keine guten Erinnerungen an ihn, lass es sein“ (S. 19).
Das zweite auffallende Element betrifft die Textgestaltung und hat mit der Unterteilung in Absätze zu tun. Damit bin ich weniger zufrieden. Liest sich das nun gut, mit all den Leerzeilen?
Nun, da ich doch schon am Murren bin: Das Korrektorat hätte bessere Arbeit leisten können, und hier und da ist auch das Friesische nicht sonderlich schön. Dem steht gegenüber, dass Verf gelegentlich wunderbare urfriesische Worte präsentiert. Warum nicht etwas konsequenter? Übrigens, die Art und Weise, in der er die Verbformen benutzt, gibt dem Roman ein besonderes Gepräge. Wie wunderbar die friesische Sprache doch ist, wenn man sie auch im Hinblick auf Aspekte der Morphologie so individuell einfärben kann.
Ein sinnvolles Leben wartet mit einer ausgeklügelten und überraschenden Konstruktion auf. Der systematische Wechsel der Erzählperspektive bietet dem Autor ein schönes Mittel, um aus dem Erleben der beiden Figuren die bessere Hälfte und die eigene Ehe zu beobachten und zu interpretieren. Unterschiede in Einsichten und Auffassungen werden logisch, respektvoll und mit Sachverstand beschrieben. Verf gelingt es, die Geschichte des damaligen drogendealenden und manipulativen Mitbewohners geschickt sowohl mit dem politischen Thema und der Suche nach persönlicher Sinnstiftung als auch mit der heutigen Drogenproblematik zu verbinden. Das Hin- und Herspringen in der Zeit und zwischen den Erzählsträngen wirkt auf den Leser, als würde es so und nicht anders sein müssen. Und ich muss sagen, der Schluss des Romans hat mich berührt.
Wenn man älter wird, will einem vieles nicht mehr gelingen, bemerkt Karin, doch Willem Verf, selbst gut sechzig Jahre alt, hat mit Ein sinnvolle Leben meiner Meinung nach dennoch einen gediegenen und ausgewogenen Roman geschrieben.
Wie er die Auszehrung der Sozialdemokratie beschreibt und was das mit einem standhaften Sozialisten macht, erachte ich als das bei Weitem Wichtigste an diesem Roman. Damit ist es für mich ein Zeitdokument passend zu unserer Generation und kann, was mich betrifft, prominent auf dem Ladentisch des Ferdinand-Domela-Nieuwenhuis-Museums in meiner alten Schule in Heerenveen liegen. Dabei handelt es sich zwar um ein Museum, doch im (Schluss-?) Manifest Willem Verfs sehe ich gern eine Bake für die Zukunft.

Willem Verf: It sinfol bestean. Leeuwarden: Afûk, 2017.